„Es gibt das 'Wir-Gefühl', auch wenn wir uns nicht treffen“

01.04.2020- Das Corona-Virus hat die Welt derzeit fest im (Würge)Griff. Es legt jedwede Aktivitäten in Wirtschaft, Kirche, Gesellschaft und Bevölkerung lahm und verändert dauerhaft das Leben der Menschen. Die täglich neuen Entwicklungen in der Corona-Krise machen Angst. Das gilt auch für unseren sonst so lebendigen Stadtbezirk Brand. Betroffen von der Krise sind alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens. Die Mitarbeiter in den Verwaltungen arbeiten schon lange am persönlichen Limit, um mögliche Schäden von der Bevölkerung fern zu halten bzw. die Ausbreitung des „unsichtbaren“ Gegners Corona zu verlangsamen. Im Fokus aller Aktivitäten in der Städteregion Aachen steht der Brander Dr. Michael Ziemons, Dezernent für Soziales und Gesundheit.

Dr. Ziemons, wie stellt sich für Sie die derzeitige Lage bzgl. Corona da?

Dr. Ziemons: Wir stehen am Anfang der ganzen Maßnahmen, die jetzt nach und nach umzusetzen sind. Für große Teile der Bevölkerung wird das sehr schwierig werden, sich dermaßen im privaten Bereich einzuschränken. Noch viel wichtiger ist Gewährleistung der Funktionsfähigkeit unseres Staates. Wir müssen schauen, dass die Krankenhäuser und die Altenheime weiter funktionieren, die ambulanten Pflegedienste, Rettungsdienste, Feuerwehren, Polizei - überall dort, wo es kritisch wird, wenn Personal krank wird. Damit beschäftigen wir uns. Die Entwicklungen sind sehr schnell, so das wir immer sehr kurzfristig handeln müssen. Ich bin seit fast vier Wochen ganztägig mit diesem Thema beschäftigt. Es werden Dinge normal, die nie normal sein dürften. Auf der anderen Seite holt diese Krise das Beste aus den Menschen heraus – das Schlechteste auch.

Realisieren die Menschen z.B. auch in Brand, was gerade passiert?

Dr. Ziemons: Meine Wahrnehmung ist, dass dies das große Problem der Situation ist, das wir eine Ungleichzeitigkeit des Bewusstseins haben. Wir hier in der Städteregion Aachen sind von der Corona-Krise schon stark betroffen. Der Kreis Heinsberg noch viel stärker mit einer drei Mal so hohen Zahl wie wir, aber wir haben deutlich höhere Zahlen als der Rest von NRW. Wenn ich mit Kollegen, z.B aus Bielefeld oder aus dem Münsterland, telefoniere, haben sie eine völlig entspannte Situation, sitzen total entspannt in ihrem Amt nd stellen fest, dass sie einen Corona-Fall haben – wir haben über 300. Genauso ist es bei den Bürgern. Manche Bürger haben sehr gut die Situation begriffen, andere haben es noch nicht realisiert und verhalten sich entsprechend anders. Meine Erfahrung ist, das die Menschen sich um 180 Prozent drehen, sobald die Krise in ihrer Nähe ankommt. Beides ist nicht richtig: Sorglosigkeit und Panik ist nicht angebracht. Richtig ist, dass wir uns vor allem um die Menschen kümmern, die älter sind oder Vorerkrankungen haben, da ist es sinnvoll aufzupassen und den Kontakt zu meiden. Das ist der gefährdete Personenkreis. Man muss sich die Frage stellen, was ist schlimmer, dass ich meine Großeltern fünf Wochen nicht sehe oder jahrelang zusehen muss, dass sie Beatmungspflichtig geworden sind. Diese Krise ist eine gute Gelegenheit uns allgemein zu hinterfragen in unserem Umgang mit Hygiene. Da sind wir jetzt massiv sensibilisiert und ich hoffe, dass wir uns zumindest ein Teil davon erhalten können, auch mit unserem Umgang mit Krankheit. Es war ja normal, dass man krank zur Arbeit geht. Jetzt stellen wir fest, dass dies keine so kluge Idee ist und wer krank ist vielleicht wirklich besser zu Hause bleibt.

Wurde der unsichtbare Gegner Corona unterschätzt?

Dr. Ziemons: Wer will das jetzt sagen? Wir haben ja noch nicht viele Erkenntnisse. Ich glaube nach wie vor, dass es eine Erkrankung ist, die in vielen Teilen der Bevölkerung harmlos ist. Wir haben keine schweren Verläufe bei Kindern und Jugendlichen sowie bei Erwachsenen unter 60 Jahren ohne Vorerkrankungen. Für den großen Teil der Bevölkerung ist diese Erkrankung wirklich eine harmlose Grippe. Unterschätzt worden ist in der Bevölkerung tatsächlich, dass es Risikogruppen gibt und dass wir uns um diese Risikogruppen Sorgen machen müssen. Ich habe in der Städteregion sehr frühzeitig Krankenhausschließungen für Besucher angeordnet. In bin in der Presse dafür verhauen worden. Ich habe frühzeitig die Senioreneinrichtungen darauf hingewiesen, man möge so wenig wie möglich Besucher empfangen. Das gab viel Ärger, weil die Angehörigen das nicht eingesehen haben.

Was bedeutet die Corona-Krise für den Stadtbezirk Brand?

Dr. Ziemons: Das berühmte Brander Wir-Gefühl steht vor einer Herausforderung. Brander sind gesellige Menschen und wir leben davon, dass wir uns in Vereinen treffen. Brand funktioniert in Vereinsstrukturen, in Gruppen, in denen wir Brander gerne zusammenkommen. Das macht uns aus. Jetzt können wir das nicht mehr, weil man sich in den Vereinen nicht mehr treffen kann. Ich freue mich darüber zu sehen, wie die Brander kreative Lösungen entwickeln. Das Beispiel vom Mobilé, einen Einkaufsservice zu betreiben, ist ein besonders gutes Beispiel dafür, wie der Zusammenhalt klappen kann. Wir Brander sind ja ein störrisches Bergvolk und wir haben es noch immer geschafft und werden auch mit der Corona-Krise umgehen können. Wir Brander sind gesellig aber auch verantwortungsbewusst. Wir kümmern uns auch um die alten und kranken Menschen, das hat uns immer ausgemacht. Jetzt sind wir gefragt, unsere persönlichen Kontakte einzustellen. Ich freue mich, wenn über Telefonketten oder ähnliches ein soziales Miteinander in unserem Stadtbezirk entsteht.

Wie kommt der Brander mit der staatlich verordneten Isolation klar.

Dr. Ziemons: Es gibt doch genug Alternativen. Kontakt per Telefon oder soziale Medien. Er kann ein gutes Buch lesen, dafür gibt es in der Bücherinsel, die geöffnet ist, reichlich Auswahl. Die Zeit zum Hamsterleihen ist gegeben. Aber ganz im Ernst: Der Brander ist kreativ. In bin gespannt was wir noch alles erleben. Es gibt Brander Facebook-Gruppen, Brander Whats-App-Gruppen, Nachbarschafts-Apps - in den digitalen Medien wird jetzt viel davon wiederzufinden sein, was das Brander Miteinander ausmacht.

Wie schwer fällt Ihnen persönlich die Corona-Krise?

Dr. Ziemons: Als die ersten Fälle in Italien bekannt wurden, haben wir im Gesundheitsamt zusammengesessen und entschieden, dass wir gut darauf vorbereitet sein müssen, wenn der Virus nach Deutschland und in die Stadtregion kommt. Zwei Tage später bin, wie immer, mit dem Fahrrad zur Arbeit gefahren. Dann hatten wir den ersten Fall in der Städteregion und ich bin nicht mehr mit dem Fahrrad nach Hause gekommen, das steht abgeschlossen im Haus der Städteregion im Keller. Seitdem bin ich nur noch mit einem Dienstwagen unterwegs. Ich habe derzeit mindestens einen 19-Stunden-Tag. Schwierig ist, wenn die eigene Tochter weinend vor einem steht und sagt „Papa, ich vermisse dich so!“ und ich nicht nicht sagen kann, dann bleibe ich jetzt zu Hause. Ich weiß einfach, es geht jetzt in dieser Krisenzeit nicht. Alle Verantwortliche und Helfer bezahlen einen hohen Preis. Man liegt abends im Bett und denkt darüber nach, habe ich an alles gedacht, bin ich den Menschen gerecht geworden, was lösen die Krankenhausschließungen bei den Familien aus, die jetzt nicht mehr ihre Kranken besuchen dürfen. Ich sitze abends nicht da und freue mich darüber. Vielmehr stelle ich mir die Frage, was tue ich den Leuten an und wie halten sie das über so viele Wochen aus. Gleichzeitig gab es auch viele positive Rückmeldungen, die ich derzeit gut ertragen kann, weil sie mir mental gut helfen. Dankbar bin ich den Kolleginnen und Kollegen bei der Städteregion, die über sich herausgewachsen sind. Es ist eine große Erfahrung zu erleben, wie eine ganze Behörde hinter mir steht und wir gemeinsam ein Ziel verfolgen. Ich stehe im Fokus, weil ich der Gesundheitsdezernent bin, aber ohne die vielen hundert Mitarbeiter im Hintergrund wäre es nicht zu schaffen.

Was empfehlen Sie den Brandern in dieser Situation? Wie sollen sie sich verhalten?

Dr. Ziemons: Mein Appell ist die sozialen Kontakte nicht einzustellen. Wir müssen die persönlichen Begegnungen einstellen, aber wir sollten sozialen Kontakte weiter pflegen - über Telefon und über andere Dienste. Meine Empfehlung an die Brander ist, sich nicht in das eigene Schneckenhaus zurückzuziehen. Ich hoffe, das wir als Brander zeigen, dass es das „Wir“ auf Brand auch gibt, wenn wir uns nicht persönlich begegnen können, wie wir das gewohnt sind.


Das Interview wurde am 18. März geführt.



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